Liebe, Werbung und Ehe im Skandinavien der Wikinger (Teil 1)

Vor einiger Zeit fragten mich Freunde, wie eine Wikinger-Hochzeit durchgeführt werde. Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Auch eine diesbezügliche Nachforschung in den Sagen half mir nicht weiter. Damit begann die Arbeit an einem umfassenden Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse hier zu lesen sind.

Sogar in den saftigen, modernen romantischen Erzählungen sieht das Problem doch so aus: Wo wird denn schon tatsächlich eine gesamte Hochzeitszeremonie “beschrieben"? Man findet dort Frauen, die weiße Kleider - oft mit Schleier - tragen, dann einen Bräutigam und dessen Trauzeugen, eine Ehrendame sowie Brautjungfern, und irgendwo in dem Bild tauchen auch die Worte “Ich will" und ein Paar Ringe auf. Wie also jeder von uns weiß, der schon mal eine Hochzeit gesehen hat, gibt der Erzähler eines solchen Romans eben nicht alle Details in seiner Geschichte wieder. Nur ein Ethnologe oder ein Anthropologe ist fähig, all die Einzelheiten wahrzunehmen, die es jemandem, der aus einer anderen Zeit oder Kultur stammt, ermöglichen, eine moderne amerikanische Hochzeit nachzuvollziehen. Ähnlich wie zeitgenössische Kommentatoren oder auch Historiker anderer Kulturen versorgen uns auch die Autoren der Sagen nicht mit den vollständigen Einzelheiten des Geschehens.

Dies nun ist “meine" Antwort auf die Frage “Wie führten die Wikinger ihre Hochzeiten durch?". Ich habe den Eindruck, eine gute Annäherung an die originalen Verhältnisse gefunden zu haben. Meine Freunde, Lord Björn Haraldson und Lady Leidrun Leidulfsdottir, feierten ihre Hochzeit so, wie ich es hier beschreibe, und sowohl für alle Gäste als auch das Paar selbst fühlte es sich “richtig" an. Es war sehr angenehm, in einem fremden Land an einem alten Ritual teilzunehmen, von dem man weiß, daß jede der durchgeführten Handlungen das Ergebnis einer Unzahl von Traditionen darstellt. Ein wenig führe ich den Erfolg des Ereignisses auch auf Leidrun zurück, die auf großartige Weise wie ein General versteht, ihre Freunde zu führen und deren Potentiale zur Bildung einer Gruppe heranzuziehen. Diese Hochzeit war beinahe das tiefste und ergreifendste Erlebnis, das ich je hatte, und kommt für mich gleich nach dem berühmten “DU BIST DA".

01. EINFÜHRUNG

Dieser Artikel untersucht Heiratsgebräuche und verwandte Bereiche, wie sie im Skandinavien der Wikinger existierten. In erster Linie stellte die Eheschließung eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Familien der Braut und des Bräutigams dar, so wie es auch während anderer Perioden und in anderen Gegenden des mittelalterlichen Europas üblich war. Im Sinne dieser Zielsetzung habe ich ebenso kurz die Gebräuche bezüglich Liebe, sexuellem Verhalten, der mythisch-religiösen Aspekte sowie der Scheidung untersucht, um einen Zusammenhang zum soziokulturellen Hintergrund, vor dem sich die Verheiratung zweier Menschen abspielte, zu schaffen.

Das Zentrum dieser Nachforschungen ist die heidnische Ära der Wikinger, auch wenn aufgrund der späten Entstehungszeit der uns zur Verfügung stehenden Gesetzbücher und literarischen Quellen einige Informationen unzweifelhaft eher das mittelalterliche Skandinavien reflektieren (ca. 1000 - 1400 n.d.Z.). Außerdem sollte erwähnt werden, daß der größte Teil der uns zugekommenen Fakten aus Island stammt, was bedeuten kann, daß die hier vorgebrachten Schlußfolgerungen nur isländische Gebräuche betreffen, da es bezüglich der Gesetze, der Religion und der Gesellschaft in den verschiedenen skandinavischen Ländern große Unterschiede gab. Es existierte eben keine universelle, einzige “Wikingerkultur". Die Primärquellen der Wikingerzeit stammen aus der Archäologie, von Runeninschriften und aus der zeitgenössischen Literatur, geschrieben von arabischen Reisenden und germanischen Chronisten wie zum Beispiel Adam von Bremen.

Weitere Quellen, die nützlich sein können, um das Bild des Wikingerzeitalters zu vervollständigen, stammen aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert: Es handelt sich hier um die skandinavischen Chroniken, Sagen und Gesetze. Wer diese späteren Quellen benutzt, muß bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes vorsichtig sein, da sie eher mit persönlichen und politischen Manövern als mit Sozialgeschichte in Verbindung stehen und vielleicht sehr genau die sozialen Bedingungen der Zeit, in der der Autor lebte, spiegeln und weniger die der in den Erzählungen vorkommenden Gestalten - so wie auch mittelalterliche Maler historische Figuren wie König Arthur in der Rüstung des späten Mittelalters und nicht in der zu seiner Zeit üblichen historischen Gewandung zeigen. Die Gesetzbücher des mittelalterlichen Skandinaviens dienen vielleicht besser zur genaueren Orientierung als die Sagen, auch wenn ihr Hauptwert für den Nachforschenden in der “normativen Geschichte" liegt, da sie eher einen Einblick darein geben, wie die Gesetzesmacher sich das Miteinander der Gesellschaft vorstellten als dahingehend, wie das alltägliche Leben wirklich war. Des weiteren sind alle Gesetzbücher, über die wir heute noch verfügen - wie beispielsweise “Gragas", das Gulathing-Gesetz, das Frostathing-Gesetz, “Jyske Lov" und andere - erst nach dem Wikingerzeitalter zur Niederschrift gekommen, und zwar zu einer Zeit, in der die Gründung des Christentums und die Vereinheitlichung der Verordnungen die schriftlichen Fassungen der alten Gesetzbücher beeinflußt haben dürfte.

Solange der Tag noch nicht gekommen ist, an dem wir im Gletschereis einen vollständig erhaltenen Wikinger finden und wiederbeleben, der uns eine genauen Bericht seines Lebens und seiner Kultur gibt, ist es unwahrscheinlich, daß moderne Historiker je in der Lage sein werden, eine absolut exakte und zuverlässige Beschreibung dieses Zeitalters zu erstellen. Die Zeit der Sagen ist vergangen und wird - wie das Goldene Zeitalter des Homer - nur in Stücken von Gefäßscherben, romantisierenden Erinnerungen und fernem Widerhall vor uns erstehen. Im Auftrag der Wiedererschaffung der Gesellschaft der Wikinger durch Vereinigungen wie die S.C.A. oder der Wiederbelebung religiöser Glaubensformen des heidnischen Skandinaviens durch die Asatrú vermischen wir häufig historische Fakten, die Literatur der Zeit und unsere eigenen kreativen Vorstellungen, um eine neue Realität zu erschaffen, von der wir hoffen, daß sie nicht zu weit von der geschichtlichen Wahrheit entfernt ist. Mit diesem Wissen im Hintergrund können wir uns von den in den folgenden Seiten enthaltenen Informationen zeigen lassen, wie eine Wikingerhochzeit aussah - oder wenigstens ausgesehen haben könnte.

ENDE  TEIL 1

© Text: von Gunnora Hallakarva, Übersetzung: Vicky Gabriel